Michael Buttgereit (MB): In Ihrem Buch erstellen Sie ein Psychogramm der Nation. In welchem Zustand befinden wir uns aktuell? (Das Ínterview ist von 2020, Anm. der Website-Redaktion)
Stephan Grünewald (SG): Wir sind eine aufgewühlte Gesellschaft, die Gefahr läuft, ihren inneren Zusammenhalt aufzukündigen, ihre Zukunfts-Zuversicht zu verspielen und zivilisatorische Standards durch radikale neue Heils- und Erlösungsideen zu ersetzen.
MB: Wo sehen Sie die drei Hauptprobleme?
SG: Erstens: Sozialer Sprengstoff steckt in einem Wertschätzungsproblem: Viele bodenständige Menschen fühlen sich von den Eliten hochnäsig behandelt, weil sie immer noch Fleisch essen, Diesel fahren oder Unterschichts-TV gucken. Zweitens: Orientierungslosigkeit und Rollenunsicherheit: Selbst erfolgreiche Männer kippen aus ihrer beruflichen Funktionspotenz in eine Art Privatinsolvenz, wenn sie über ihr Beziehungsleben sprechen. Der derzeit mit 27 % größte Männertypus ist der Schoßhund: Er tut alles, was Frauchen ihm sagt, zerbeißt im Internet heimlich einen Pantoffel, scheut sich aber, einen eigenen Standpunkt zu beziehen, der ihn angreifbar macht.Drittens: Schließlich verheißen digitale Features wie das Smartphone eine fast gottähnliche Allmacht. Die Menschen haben heute einen magischen Zeigefinger und wollen buchstäblich im Handstreich ihren Alltag managen. Da das aber in der analogen Welt nicht funktioniert, entstehen Unduldsamkeit und Wut.
MB: Welchen Beitrag können Politik und Unternehmen leisten?
SG: In Politik und in Unternehmen brauchen wir Visionen, die über wirtschaftliche Parameter hinausgehen und eine gemeinsame Aufbruchsstimmung erzeugen. Statt herrischer Hierarchien oder braver Folgsamkeit à la Schoßhund brauchen wir eine neue Streitkultur. Der Streit auf Augenhöhe eröffnet neue Perspektiven und befriedet, da er nicht alternativlos verordnet, sondern alle einbezieht. Vertrauen basiert auf Verstehen, auf Berechenbarkeit und auf dem Zutrauen, dass – gemeinsam — Herausforderungen bewältigt werden können.